Ignoranz des Sachproblems

Als wissenschaftliche Mitarbeiterin habe ich an einer außeruniversitären Forschungseinrichtung angefangen zu arbeiten. Das Projekt lief schon eine Weile und war durch Personalfluktuation ins Stocken geraten. Nach etwa einem dreiviertel Jahr stellte ich fest, dass die methodische Herangehensweise im Projekt Fehler produzierte, die extra künstlich entfernt werden müssen. Ich erfuhr von einer neu entwickelten Methode, die einen wichtigen Teil des fehlerverursachenden Problems löst und daher eine künstliche Fehlerentfernung nicht benötigt. Ich erzählte einer Person der Institutsleitung davon und schlug vor, die Entwickler:innen der Innovation einzuladen, was jedoch abgelehnt wurde. Auf einer Konferenz lernte auch der Referatsleiter der im Projekt kooperierenden Behörde die Methode kennen. Er blieb ihr gegenüber reserviert, ließ meinem Enthusiasmus aber doch noch eine Chance, und sagte, bis Weihnachten könne ich rumprobieren, danach wird aber die finale Entscheidung getroffen. Ich arbeitete also mit dem neuen Ansatz weiter. Mein Projektleiter wusste auch davon und ließ mich machen. Wenige Monate später hatte ich erste Erfolge. Diese Erfolge präsentierte ich bei einer institutsinternen Projektvorstellung, und bekam eine heftige verbale Standpauke der wissenschaftlich leitenden Entscheidungsträger:innen wegen Verlassens des ursprünglichen Entwicklungsweges. Diese Kritik brachte mich sogar zum Weinen. Auch ein anderer Projektmitarbeiter beschuldigte mich, ich sei der ganzen Gruppe in den Rücken gefallen. Das ganze nächste Jahr habe ich überlegt, wie ich die von der Leitungsebene gewünschte, ursprüngliche Methode fehlerfrei hinbekommen könnte. Diese Überlegungen mündeten in ein Paper, welches zeigte, dass die Fehler der ursprünglichen Methode unvermeidlich sind, während sich ähnliche Fehler mit der neuen Methode sicher vermeiden lassen. Dafür bekam ich in der wissenschaftlichen Community Anerkennung. Auf sachlicher Ebene Verbündete in meinem eigenen Institut oder bei der kooperierenden Behörde zu finden, gelang mir jedoch nicht. Viel Zeit habe ich damit verschwendet, an mir und meinen Fähigkeiten zu zweifeln, weil ich dachte, die Leute, die die alte Methode propagierten, müssten doch inhaltlich Recht haben, und ich muss rausfinden, warum sie Recht haben. Später bewarb ich mich noch auf eine feste Stelle im Projekt bei der oben erwähnten Behörde, die ich jedoch nicht erhielt. Andere Mitarbeiter:innen führten das Projekt nach Wunsch zu Ende. Danach war ich 10 Jahre an einem anderen Institut und konnte meine Herangehensweise mit der noch erweiterten neuen Methode veröffentlichen. Ich war aber so irritiert und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, dass ich keinen Kontakt zu Kolleg:innen innerhalb der deutschen Forschungscommunity aufnehmen wollte. Inzwischen ist die neue Methode international verbreitet und ich konnte noch Aspekte zu ihrer Verbesserung beitragen. Meine eigene wissenschaftliche Karriere habe ich beendet.

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